Immanuel Velikovsky
Das kollektive Vergessen
Verdrängte Katastrophen der Menschheit

(a. d. Amerik. übers. v. F. W. Gutbrod)
Ullstein, Frankfurt/M. und Berlin

Das schon 1982, drei Jahre nach Velikovskys Tod, in den USA erschienene Buch bezeichnete der Autor selbst als sein Vermächtnis. Er hielt es für dringend geboten, dass es so schnell wie möglich erscheine. „Im Gegensatz zu meinen früheren Büchern hat es nicht nur mit der Vergangenheit zu tun, sondern in erster Linie mit der Zukunft – einer Zukunft, die nicht Tausende oder Zehntausende von Jahren entfernt ist, sondern die unmittelbar vor uns liegt und an deren Schwelle wir jetzt stehen,“ sagte er schon 1971 in einem Seminar (im Vorwort von L. E. Rose zum Buch). Seitdem ist eine Generation vergangen, ohne dass wir weiter gekommen wären. Und einige der Grundgedanken sind heute wie damals für unsere Forschungsarbeit bedeutend, deshalb möchte ich eine kurze Buchbesprechung folgen lassen.

Beim Lesen des Prologs ist man allerdings enttäuscht und möchte das Buch weglegen: Da spricht der angesehene Psychoanalytiker, der als Beglaubigung für einen der Grundgedanken, den er schon 1929/30 geäußert hat, Bleuler und Freud anführen kann, ganz kindlich naiv von der guten Erde und von der Natur, die „zwar eine große Zahl von Lebewesen vernichtete, aber offenbar bestrebt war, die Lebensbedingungen zumindest für einige von denen zu verbessern, die bestimmt waren, als Art zu überleben,“ womit er den „Menschen und seine tierischen Weggefährten während vergangener Jahrmillionen“ meint. Gleich anschließend stellt er sich ernsthaft erneut die Frage, „ob die Vorsehung dies alles gewollt und geplant habe oder wir unser Überleben nur dem blinden Zufall verdanken ...“ um am Schluss festzustellen, dass es nur noch eine einzige Zivilisation in unserem Planetensystem gibt, „der die Sonne zu dienen hat – die Zivilisation des Menschen.“

Altersschwäche (mit 84 Jahren) oder kindliche Religiosität, wenn auch gewandelt von dem bibelfesten Vertrauen in Gott (der fünfziger Jahre) zu einer mehr heidnischen Naturreligion?

Einzufügen wäre hier, dass das Buch in der vorliegenden Gestalt von Lynn Rose stammt, wie an einigen Stellen auch verraten wird, etwa in der Anmerkung auf S. 39, die darauf hinweist, dass „dieser Absatz“ – wie viel genau, ist unklar – „teilweise von Velikovskys Vortrag (... 1974) übernommen“ wurde. Oder S. 53, wo es heißt: „Der folgende Abschnitt wurde auf Vorschlag Velikovskys von Professor Lynn E. Rose verfasst.“ Wo der Abschnitt endet, ist nicht erkennbar.

Dennoch lohnt sich die Lektüre, denn viele Gedanken dürften auf V. zurückgehen, und der große alte Mann des modernen Katastrophismus hatte Wichtiges zu sagen.

Er beginnt mit dem medizinisch bekannten Gedächtnisschwund einer Person – ein in der Literatur häufig bearbeitetes Thema, nirgends besser als im „Golem“ von Meyrink – und überträgt dieses Phänomen auf Kulturgruppen und sogar die Menschheit als Ganzes. Das Unvermögen einzelner wie auch der Gesamtheit, dies auch nur zu erkennen, führt zu irrationalem Handeln, was vermeidbar wäre, wenn der vergessene oder verdrängte Gedächtnisinhalt wieder heraufgeholt werden könnte. Hier wird also nicht nur der Grund für die Sinnlosigkeit unserer geschichtlichen Entwicklung sondern zugleich auch das Heilmittel angegeben, ein großes Vorhaben.

Durch falsches Verhalten dagegen – und das ist noch immer das gängige – wird der Schaden fortgesetzt und führt zu immer größeren Auswüchsen.

Außerdem stellt Velikovsky gleich weiter denkend die Frage, ob es sich bei dieser Kollektivseele lediglich um das Produkt eines telepathischen Vorgangs handelt, oder ob sie auch aufeinander folgende Generationen verbindet, also eventuell erblich sei. Von der Beantwortung hänge das endgültige Schicksal des Menschengeschlechts ab (S. 24). In der Folge entscheidet sich V. für die Erblichkeit der traumatischen Erlebnisse der Menschheit, mithin für das unterbewusste Weiterschleppen der Gedächtnisinhalte, die aus dem Bewusstsein verdrängt wurden und darum umso gefährlicher wirksam werden können.

Soweit folgt man dem Psychoanalytiker gerne und erkennt auch, wo er Freud übertraf und dem gesamten Neokatastrophismus eine neue Richtung gab, die zur Lösung einiger Überlieferungsprobleme beiträgt.

An der Auswertung der Überlieferungen hapert es leider. Gerade da, wo V. erstmals aus der Bibel zitiert (S. 43) – aus Jesaja 24 – da wird er ungenau. Zunächst lobt er die Wortgewalt Jesajas grenzenlos („Als Meister des geschriebenen Wortes hat Jesaja in der Weltliteratur nicht seinesgleichen“) und stellt die Unübersetzbarkeit fest: „Keine Übersetzung wird auch nur im entferntesten seinem Hebräisch gerecht ...“, aber dann bringt er einige Verse „nach der Übersetzung aus Herders Bibelkommentar“ (schrieb Herder englisch? Und wo erschien dieser Text?), wobei er die Verse 1, 6 und 19-20 auseinander reißt (hier fehlt Anmerkung 2, ein „sinnvoller“ Druckfehler?) und diese Bruchstücke als Erinnerungsbericht eines Augenzeugen hinstellt, während in der Lutherbibel dieser Text im Futurum steht, als Prophezeiung aufzufassen. Außerdem steht in den ausgelassenen Versen nichts von Himmelskörpern als Verursachern der Katastrophe, sondern ganz wörtlich, dass die Menschen daran schuld waren, „denn sie übertreten das Gesetz und ändern die Gebote“ (Vers 5).

Zugegeben, das könnte unter den Begriff scholastischer Verfälschung des Bibeltextes fallen, aber darauf hätte der Autor eingehen müssen. Wer die Bibel oder Herder nicht kennt, wird hier fehlgeleitet.

Dasselbe gilt für die kurze Erwähnung des kosmischen Ereignisses, bei dem die Sonne um zehn Grad rückwärts schritt (2. Kön. 20, 9-11), was V. als Hinweis auf die Katastrophe wertet. – Möglich, aber leider fehlt hier im Bibeltext jede weitere Aussage, dass dabei irgend etwas Aufregendes geschehen wäre; es ging einfach so vor sich, niemand hat es gemerkt außer König Hiskia und dem Propheten Jesaja. Eben darin besteht ja die Verdrängungsarbeit der „aristotelischen“ Geschichtsschreiber, wäre V.s Argument. Dann hilft uns die Angabe „10° rückwärts“ auch nicht weiter, denn so losgelöst ist sie wertlos. Oder sollten wir das auf einen Dekan beziehen, also zehn Tage zurückschreitend? Dann wäre dieser Jesaja-Texteinschub im 16. Jh. geschrieben, als man erkannte, dass der Kalender sich um zehn Tage verspätet hatte. Dann wäre der Einschub verräterisch für den Herstellungsvorgang der Bibeltexte (der ja bis auf Feinheiten etwa zu diesem Zeitpunkt seinen Abschluss fand), aber wertlos für die Erkenntnis von Katastrophenvorgängen, die Velikovsky in der „Nacht des 23. März 687 v.Chr.“ verortet (S. 45 u.ö.).

Wie die genaue Festlegung dieses Datums für einen der früheren „Weltuntergänge“ schon erkennen lässt, hat Velikovsky die Brüchigkeit der bisher benützten Chronologie noch nicht erkannt, obgleich er selbst zu diesem Zeitpunkt schon seit drei Jahrzehnten zum Zerbrechen der herrschenden Denkmuster in Sachen Zeitabfolge-Jahreszählung beitrug und manche Pharaonen um Jahrhunderte verschoben hatte.

Im Gegensatz zu anderen theologisch orientierten Forschern hat Velikovsky auch die Hinweise auf Katastrophen im Neuen Testament (S. 98) in Betracht gezogen und sogar noch spätere Ereignisse, wobei er einen Siebenhundertjahrrhythmus zu erkennen glaubte. So hatte er im finsteren Mittelalter, im 7. Jh., eine entsprechende Katastrophe ausgemacht, die er mit dem Koran und seiner Verkündigung verknüpfte. „Mitte des 14. Jahrhunderts – Die Periodizität des Wahnwitzes“, ist der nächste Abschnitt überschrieben (S. 101), der beginnt: „Wieder gingen siebenhundert Jahre ins Land, und wieder erwartete die Menschheit das Weltende.“ Dazu führt er zahlreiche Himmelserscheinungen sowie die Pest als Kennzeichen des befürchteten Weltuntergangs an, „Naturereignisse, die in verblüffender Weise an die Vorgänge während des Exodus und des Endes des Mittleren Reiches in Ägypten erinnerten,“ (S. 103), was ihn leider nicht zu dem Schluss nötigt, dass die Berichte davon auch von denselben Verfassern oder zumindest aus derselben Generation stammen dürften. Im Gegenteil, er lässt diese Ereignisse an der ihnen heute zugewiesenen chronologischen Stelle – Quellenkritik ist ihm völlig fremd – und rechnet nun aus dem Wiederkehren gleichartiger Vorkommnisse nach jeweils 700 Jahren eine nahe bevorstehende Katastrophe für das 21. Jahrhundert heraus. „Und da die Periode von siebenhundert Jahren nur eine Annäherung darstellt – könnte die nächste Explosion vielleicht schon früher auftreten?“ Denn dabei würde „der 700-Jahr-Zyklus zum ersten Mal mit dem Millenniumszyklus (dem Jahrtausend-Zyklus) zusammenfallen“ (S. 104), außerdem verfügt der Mensch heute über die nötigen technischen Vernichtungsmittel. Wir sehen, wie immer wieder die beiden Begriffe: kosmische Naturgewalten und Sündhaftigkeit der fehlgeleiteten Menschheit, also physikalische und theologische Denkschemata, miteinander verknüpft werden, was vielen Wissenschaftlern die Lektüre von V.s Büchern so peinlich machte. Ob diese beiden Komplexe voneinander getrennt betrachtet werden können, ist jedoch fraglich. Selbst Platon hat in seinem Atlantisbericht keinen Unterschied zwischen diesen beiden Kategorien gemacht. So endet auch V. sein Kapitel „In Angst und Bangen“ mit folgendem inhaltsschweren Satz (S. 112): „Die Verwerfungen und Entgleisungen in den Bewegungen der Gestirne (V. sprach ausdrücklich auch von den Planeten Mars und Venus) wurden vom Volk der Juden dem Willen des Schöpfers des Menschen, des Wächters über dessen Taten, ja sogar über dessen Gedanken zugeschrieben. Die Rechtschaffenheit war aufgerufen, die Natur in Schranken zu halten.“ Solche magischen Verkettungen sind vor der Aufklärung durchaus tonangebend gewesen, in heutiger wissenschaftlicher Denkweise treten sie höchstens noch verdeckt auf.

Auch der Hang, prophetische Aussagen zu treffen oder zumindest gewisse rhythmische Wiederholungen auszumachen, gehört zum Verhaftetsein in talmudisch-biblischem Denken und übersteigt bei weitem die eigentliche Zielsetzung einer geschichtskritischen Sicht. In diesem Zusammenhang gibt Velikovsky auch viele Antworten auf Fragen, die zu seiner Zeit diskutiert wurden. So erwähnt er den geradezu unausrottbaren Hass, den das „jüdische Volk“ seit vielen Jahrhunderten gegen die Amalekiter hegt „bis auf unsere heutige Zeit“ (S. 142) und erkennt in diesem Sinne auch den Ursprung des Antisemitismus (S. 143), der darauf beruhen soll, dass eine Gruppe von Auserwählten „behauptet, dass die Vorgänge, die die Menschheit bis an den Rand völliger Vernichtung führten, von Gott oder der Natur (sic!) auf Bitten eben der Gruppe in Gang gesetzt wurden, die von ihnen profitierte, und deren Nachfahren sich die Jahrtausende hindurch unentwegt rühmen, die Nutznießer von Katastrophen gewesen zu sein, die um ein Haar die ganze Erde und die Bewohner in Asche verwandelt hätten.“

Ein gewisser Hang zum Größenwahn ist in allen Schriften V.s zu finden. Ob das wirklich alles erklärt, lasse ich offen; es erklärt im Freudschen Sinne den Teil, den Velikovsky in diesem Buch bespricht: Wenn es einen Gott gäbe, der im Zusammenhang mit menschlichem Verhalten die Erde mit Katastrophen heimsuchte, dann wären die zum Bund mit dieser Gottheit verpflichteten Auserwählten die Nutznießer dieser Vorgänge. Das könnte als magisches Denken einer früheren Kulturstufe durchaus literarischen Niederschlag in der Bibel gefunden haben, doch für Rückschlüsse auf kosmische Vorgänge ist das wenig geeignet, wenn nicht andere Hinweise mit herangezogen werden können, die aus diesen biblischen Anekdoten ein kohärentes Muster ableiten lassen. Einseitige von religiöser Erziehung geprägte Gedanken lenken von der wissenschaftlichen Erneuerung der Katastrophentheorie ab und haben außerdem zur Folge, dass die Bibeltexte unkritisch als Beweisgrundlage übernommen werden, wo sie dergleichen nicht hergeben.

So bleibt die Grundthese, nämlich dass unser Vergessen der Katastrophen religiös manipuliert wurde und verantwortlich für weiteres irrationales Verhalten ist, durchaus diskutabel, wenn sie auch auf andere Beine gestellt werden müsste, um in einer aufgeklärten Gesellschaft möglichst sachlich diskutiert zu werden.

(Uwe Topper)


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